Monat: November 2014

Abwärts!

image

Zona descenso permanente – so ein Schild sieht der Radfahrer doch gerne! Für die nicht Lateiner unter uns – descenso steht frei übersetzt für „jippie, es geht bergab“, und permanente heißt genau das: dauerhaft. Rund 30 Kilometer gab es heute kaum etwas zu pedalieren, doch so ganz umsonst bekamen wir den Spass nun auch wieder nicht, denn auf den 90 Kilometern zuvor waren knapp 1.900 Höhenmeter zu überwinden gewesen.
Nun sind wir in Puerto Ibañez, glotzen auf einen herrlichen See und genießen ein kühles „Cerveza Austral“. Morgen gehts es zurück nach Argentinien, wo wir dann für acht weitere Fahrtage in Folge wortwörtlich in der Pampa verschwinden werden. Das heißt Wind, harsche Schotterpisten und tiefste Einsamkeit, weshalb der nächste Eintrag an dieser Stelle wohl auch erst am nächsten Pausentag in El Calafate kommen wird.
Genießt das Wochenende!
Hasta pronto, nuestro Hardy cyclist

Coyhaique in Bildern

Ich weiß ja nicht, was für ein Eindruck von Coyhaique mein „New-York-Vergleich“ bei Euch hinterlassen hat, aber ich habe den Nachmittag mal genutzt, um ein paar Aufnahmen von der realen Welt hier zu schießen. Ziemlich unspektakulär, ich weiß, aber so ist es nunmal ab und an mit der Wahrheit: sie ist unspektakulär.

Ich hingegen werde mich jetzt spektakulär dem Hopperdietzel-Ale „Goldene Jahre“ widmen (Hopperdietzel, das war der aus Puyuhuapi) und sende einen schönen Gruß in die Heimat.

Beginn der Einkaufsmeile "Paseo Horn".

Beginn der Einkaufsmeile „Paseo Horn“.

Kommerz überall.

Kommerz überall.

Und hier ist der Commerz en detail

Und so sieht der Comercial aus der Nähe aus.

Eine der Seitenstraße von der Haupteinkaufsmeile.

Eine der Seitenstraße von der Haupteinkaufsmeile. Wie man sieht, können sich 50.000 Einwohner ganz schön verlaufen…

Meine Heimat für die letzten beiden Tage.

Meine Heimat für die letzten beiden Tage.

Auf die "Goldenen Jahre". Salud!

Auf die „Goldenen Jahre“. Salud!

 

Auf der Straße der Einsamkeit

4.000 mm Regen bekommt die Ecke Patagoniens, in der wir gerade herumkurbeln, statistisch gesehen im Jahr ab. 4.000 mm sind stolze vier Meter, und wenn man sich die aufgetürmt als niedergehenden Regen vorstellt bekommt man eine Ahnung, wie es hier unten so aussieht bzw. wie das Wetter im Regelfall ausfällt: die Landschaft ist gritzegrün und die Niederschläge derart regelmäßig und intensiv, dass sogar Regenwald existieren kann. Hinzu kommt der Wind, und das alles ergibt einen Mix, der „interessante“ Radexpeditionen ermöglicht.

Im Rdegenwald von Patagonien - natürlich mit Regenjacke, denn es regnete..

Im Regenwald von Patagonien – natürlich mit Regenklamotten, denn es regnete..

Schon die Abfahrt am Freitag aus Bariloche gab uns eine Ahnung von dem, was uns im Laufe der sieben aufeinanderfolgenden Fahrtage erwarten sollte. Trotz blauem Himmel herrschten eisige Temperaturen, und nachdem wir erstmal die Bariloche umgebenden schweißtreibenden Hügel mit satten 16 Prozent Steigungsrate überwunden hatten, stellte sich uns ein steifer Westwind in den Weg. Erst als die Straße nach rund 40 Kilometern einen Knick machte und wir nun südwärts pedalierten, wurde es gemütlicher, und der Nachmittag auf einem sehr angenehmen Camping in der argentinischen Hippie- und Aussteigerhochburg El Bolson konnte sogar dem gemütlichen Sonnenbade gewidmet werden.

Tags darauf standen 106 Kilometer in den Nationalpark Los Alerces auf dem Zettel. Weil der anvisierte Campingplatz jedoch telefonisch nicht zu erreichen war, musste kurzzeitig ungeplant werden, und das Tagesziel lag nun nur noch bei 88 Kilometern. Dass es dennoch kein einfacher Tag wurde, dafür sorgten der Wind und Argentiniens Straßenbauer in Gemeinschaftsarbeit. Der Wind kam als tückischer Gegenspieler zumeist von vorne, während die Piste nach dem Verlassen der Ruta 40 zu einer halsbrechecherischen Schotterwanne mutierte, auf der wir eher rumeierten denn rumkurbelten. Summa summarum sank das Durchschnittstempo spürbar ab, so dass ich rund vier Stunden und elf Minuten bis ins Ziel brauchte.

Wie so häufig auf diesem Trip verplemperte ich allerdings auch eine Menge Zeit beim Fotografieren der Landschaft und anderer bemerkenswerter Dinge. Ein Foto, dass ich gerne geschossen hätte, blieb mir indes verwehrt. Dazu muss ich ein wenig ausholen. Die Kilometerangaben auf der Ruta 40 waren kurz nach Bariloche in den unteren 2000er Bereich gefallen, und so hatte ich am Vortag quasi eine kleine Geschichtsstunde durchfahren. „Historische“ Kilometersteine wie 2006 (WM in Deutschland), 1986 (Tschernobyl), 1968, 1945, 1933 oder 1918 ließen mich ebenso an vergangene Ereignisse denken wie die auftauchenden Geburtsjahre lieber Freunde, und schon bald genoss ich es, abzuwarten, was wohl beim nächsten Kilometer/Jahr als erstes in meiner Erinnerung auftauchen würde. Bei „1914“ erreichten wir den Campingplatz von El Bolson, und ich freute mich auf die Fortsetzung am kommenden Tag. Allein – daraus wurde nichts. Denn nach der Kilometerangabe 1913 war plötzlich Schluss, und so fehlte auch die mit viel Herzklopfen erwartete „1905′, trotz entzweigebrochener Liebe und langsam verblassender Farben noch immer – und für immer – die schönste Zahlenkombination in der Fußballwelt. Erst bei 1897 ging die Zählung weiter, doch da war mir der Spass bereits vergangen.

Eigentlich sollte dieses Foto 13 Kilometer vorher aufgenommen werden, doch da gab es leider kein Kilometerschild - und dieses hier droht gerade zuzuwachsen.

Eigentlich sollte dieses Foto 13 Kilometer vorher aufgenommen werden, doch da gab es leider kein Kilometerschild – und dieses hier droht gerade zuzuwachsen.

Nun aber zurück zum Radfahren, denn im weiteren Verlauf führte die Schaukelei auf der Schotterpiste zu einem der schönsten und stimmungsvollsten Orte, in denen ich je gewesen bin. Ein urwüchsiger Campingplatz, herrlich am Fluss gelegen, umgeben von schneebedeckten Gipfeln, bevölkert von einer Schar neugieriger Pferde, einem treuen Hund und einer frechen Katze, mit einer derart friedlichen Ausstrahlung, dass in mir sofort die Lust nach einem längeren Aufenthalt aufkam. Nur der andauernde Wind nervte ein wenig, doch das Gelände verfügte über diverse windgeschützte Ecken, in denen die Sonne ihre volle Kraft entwickeln konnte. Mit einem Becher Wein in der Hand ließ ich den Tag schließlich bei einem herrlichen Sonnenuntergang ausklingen und verschwand beschwingt in meinem Zelt. Manchmal liegt das Paradies eben unverhofft direkt vor einem!

Camping im Paradies.

Camping im Paradies – und die Bäume biegen sich im Wind.

Tags darauf bezahlten wir unseren Kurztrip, denn die 18 zu wenig gefahrenen Kilometer addierten sich zu den ohnehin anvisierten 125, und weil von den nunmehr 143 fast 70 Prozent unasphaltiert waren und wir zudem einen Grenzübergang hinter uns zu bringen hatten, lag ein langer Tag vor uns. Er wurde für alle zum bislang längsten Tag der Tour. Sieben Stunden und 33 Minuten reine Fahrtzeit standen für mich zu Buche, als ich irgendwann so gegen 17 Uhr – und damit neun Stunden nach meinem Aufbruch auf dem Traumcamping – in Futaleufú und damit in Chile eintraf. Dazwischen lagen 143 äußerst wellige Kilometer mit knüppelharten Rampen von bis zu 16 Prozent, eine Piste die Ross und Reiter nahezu alles abforderte, aber auch erneute Glücksgefühle. Zum einen war das Wetter wirklich traumhaft, pedalierten wir in herrlichem Sonnenschein bei angenehmen 25 Grad. Zum anderen war die Landschaft mal wieder allererste Sahne. Patagoniens Lake Distrikt machte seinem Namen alle Ehre und ließ überall kleine und große Seen auftauchen. Und weil hier alles ganz schön großräumig und dünn besiedelt ist, fehlten die in Europa an solchen Orten unvermeidlichen Hotels, Restaurants, Kioske, war man stattdessen mit sich und dem See in einsamer Gemeinsamkeit. Ein erhabenes Gefühl, das mir, als jemand, der einsame Orte sehr schätzt, außerordentlich gut gefiel.

Unser Lunchstopp auf der Mammutetappe nach Chile - schöner gelegen geht kaum.

Unser Lunchstopp auf der Mammutetappe nach Chile – schöner gelegen geht kaum.

Der einzige „größere“ Ort erntlang der 143 Kilometer hatte ebenfalls etwas besonderes zu bieten. Das niedliche Trevelin wurde nämlich einst von walisischen Einwanderern gegründet und begrüßt seine Besucher mit einem zünftigen walisischen “Croeso”. Das wiederum war mir ein Foto für meinen lieben Freund Mel wert, der im “richtigen” Wales lebt und sich mit viel Liebe und hohem Zeitaufwand um die Organisation der Berichterstattung über die League of Wales kümmert. Zum überraschenden “Kulturschock” wurde der Grenzübertritt nach Chile. Hunderte Kilometer staubiger Schotterpiste durch wildes und ein wenig unaufgeräumtes Land lagen hinter uns, als mitten im Nichts die Flaggen der beiden benachbarten Länder Argentinien und Chile auftauchten. Nach den völlig unkomplizierten Grenzformalitäten bat man uns noch zum Gepäckcheck, der bei einem Radler naturgemäß etwas kürzer ausfällt. Insofern gab es auch keine Beanstandungen – lediglich die aus meiner Trikottasche lugende Banane erweckte die Aufmerksamkeit. Aus Furcht vor Keimen bzw. Fruchtfliegen erlaubt Chile keine Einfuhr von Lebensmitteln, und so durfte ich das Goldstück vor den Augen der aufmerksamen Grenzer verspeisen.

Walisische Grüße aus Argentinien.

Walisische Grüße aus Argentinien.

Dann ging es hinein nach Chile und die Welt sah komplett anders aus. Eine besenreine Asphaltstraße lud zum entspannten Pedalieren ein, links und rechts leuchteten sattgrüne Wiesen, auf denen braun-weiße Kühe wiederkäuten, den Hintergrund stellten sonnenbeschienene schneebedeckte Gipfel und alles wirkte enorm aufgeräumt und organisiert. War das Chile, oder war das doch eher die Schweiz? Das zehn Kilometer entfernt gelegene Futaleufú präsentierte sich dann aber doch eher weniger schweizerisch. Kleine gedrungene Holzhäuser mit rauchenden Schornsteinen, Vorgärten, in denen im Regelfall ein Schäferhund Wache hielt – das Gefühl, sich langsam dem Ende der Welt zu nähern wurde zunehmend größer.

Tags darauf ging es tiefer in die Einsamkeit, forderte uns eine mal wieder enorm wellige Schotterpiste alles ab, um auf die Ruta 7 zu gelangen, die unter ihrem Beinamen “Carretera Austral” wohl bekannter aus. Pinochets altes Prestigeprojekt, mit dem er auch den äußersten Süden des Landes “erreichbar” machen wollte, gilt unter Fahrradabenteueren als besonderes Highlight, und so fieberten wir alle ein wenig dorthin. Ebenfalls fiebern ließ uns das Wetter. Am Morgen waren wir bei herrlichem Sonnenschein in kurzärmligen Trikots gestartet und hatten im Laufe des Tages alles, was das Handgepäck hergab, an unsere Körper geworfen. Neben tristgrauen Wolken war es vor allem der eisige Wind, der uns zu schaffen machte. Insofern war die Freude groß, als sich die Carretera Austral unerwartet als geteerte Straße präsentierte – angekündigt worden war sie nämlich als eine weitere Schotterpiste. Nun mit dem Wind im Rücken war es ein – immer mal wieder von mehr oder weniger umfangreichen Straßenbaumaßahmen unterbrochener – kurzer Flug bis ins Bushcamp am Rande von Villa Vanguardia, einem der wenigen Ortschaften entlang der Ruta 7.

100.000 Menschen leben Statistiken zufolge im chilenischen Teil von Patagonien. 50.000 davon drängeln sich in Coyhaique, in dem wir gerade unseren Pausentag verbringen (dazu später mehr). Bleiben 50.000 für den Rest der Region, und wie dünn sie besiedelt ist, zeigte auch Villa Vanguardia, das sich mit einer Handvoll Häuschen einen dicken Punkt auf der Südamerika-Landkarte gesichert hat. Vierzehn Häuser zählte ich, und alle sahen ähnlich aus. Gefertigt aus Holz, vom ewigen Wetter gegerbt und gepeinigt, mit rauchenden Schornsteinen ausgestattet und überraschend klein. Man muss wohl dort geboren sein, um unter solchen Umständen leben zu können.

Eine Bäckerei in La Junta, einem der wenigen Orte entlang der Carretera Austral.

Eine Bäckerei in La Junta, einem der wenigen Orte entlang der Carretera Austral.

Mit der Carretera Austral kurbelten wir nun über eine weiterer Legende südamerikanischer Straßenmythen. Anders als die dicht befahrene und häufig nervige Panamericana oder die sehr wechselvolle Ruta 40 in Argentinien ist die Carreta Australal allerdings eine Straße der Einsamkeit. Wohlwollend alle halbe Stunde kommt mal ein Fahrzeug daher, und weil das so selten ist, kann man quasi davon ausgehen, dass sein Fahrer auch grüßend hupt. Bei so wenigen Menschen nimmt man offenbar alle Kontaktmöglichkeiten mit.

Für uns standen unterdessen die nächste Prüfung an. Am Nachmittag setzte Regen ein, und der hatte Ausdauer. Auch am nächsten Morgen goss es noch immer in Strömen, stakten wir wie auf Stelzen durch das ziemlich überflutete Campingelände. Zugleich zeigten sich die Unterschiede zwischen erfahrenenen Campern und Campingnovizen, denn letztere hatten ihre Behausen häufig in Senken aufgestellt und waren über Nacht unter Wasser gesetzt worden…

Mit dem Regen sackten die Temperaturen schlagartig in den Keller, und so wurde es auf dem Rad ziemlich ungemütlich. So ungemütlich, dass sich eine ganze Schar von Fahrern für die Variante “Truck” entschied. Auch ich war dabei. Allerdings bestieg ich nicht den „Express“ – den Dinertruck, der direkt ins nächste Camp fährt – sondern den Lunchtruck, der auf der Hälfte der Etappe mit dem Mittagessen wartet. Von dort aus wollte ich zumindest die zweite Hälfte der Etappe fahren. Doch als wir nach anderthalb Stunden am anvisierten Lunchstopp in La Junta ankamen, sah es noch ungemütlicher als am Morgen aus und ich verschob meinen Tagesstart auf den Nachmittag, als wir in dem Örtchen Puyuhuapi einen weiteren Stopp machten.

Puyuhuapi ist einen besondere Absatz wert, denn der Ort liegt einerseits herrlich an einem Fjord und damit quasi “am Meer”, andererseits ist er 1935 von Sudetendeutschen gegründet worden. Und das sah man! Es gibt ein Hostal Alemania, die Hauptstraße heißt Avenida Otto Uebel und zwei Brücken in der Gegend sind nach einem gewissen Helmuth Hopperditzel benannt, der in den 1950er einige Industrie in Puyuhuapi aufbaute. Auch die Architektur der älteren Häuser verriet die sudetendeutschen Wurzeln – vor allem die Dachformen erinnerten eher an Aussig/Ústí nad Labem als an Chile. Knapp 30 Kilometer waren es von Puyuhuapi noch bis zum Tagesziel in einem Nationalpark am Gletscher Collante, der sich uns in pompöser Wucht darbot und mir den Atem raubte. Nie zuvor hatte ich einen Gletscher gesehen, und alleine die Wucht, mit der das Schmelzwasser den Berg runterschießt flößte mir enormen Respekt ein.

Sudetendeutsche Häuser in Puyuhuapi.

Sudetendeutsche Häuser in Puyuhuapi.

Der Gletscher Collante mit zwei (von insgesamt vier) Schmelzwasserfällen.

Der Gletscher Collante mit zwei (von insgesamt vier) Schmelzwasserfällen.

Auch in der nächsten Nacht blieb der Regen ein ständiger Begleiter. Ebenso auf der darauffolgenden Tagesetappe, die auf einer mit Bauarbeiten gespickten Carretera Austral – die raue Schotterpiste wird derzeit in einem weiteren Prestigeprojekt komplett asphaltiert – alles von uns abforderte. Mittendrin ein zehn Kilometer langer Anstieg von rund 600 Höhenmetern, der sich in weiten Serpentinen hinaufzog und mit seiner noch nicht asphaltierten Oberfläche nach den vielen Regenfällen der letzten Stunden zu regelrechten Schlammbädern einlud. Zugleich präsentierte uns Patagonien ein weiteres seiner offenbar unzähligen Gesichter, denn wir kurbelten plötzlich mitten durch dichten Regenwald! Keine 20 Kilometer nach einem Camp unter einem mächtigen Gletscher kam das etwas unerwartet und ist wohl Konsequenz der mikroklimatischen Besonderheiten in diesem Teil der Welt.

Am Nachmittag ließ der Regen dann endlich etwas nach und wir pedalierten trocken zum Lagos las Torres, wo die erhoffte heiße Dusche leider ausfiel – auch in Chile sind die Campingplätze doch recht karg und rudimentär ausgestattet. Immerhin unter einem trockenen Himmel ging es am nächsten Tag weiter in den Pausenort Coyhaique, wobei “trocken” relativ zu sehen ist, denn angesichts der frischen Temperaturen war Winterkleidung angesagt, und die sorgte angesichts eines kraftraubenden Schotterschlussspurt – von den abschließenden rund 50 Tageskilometern waren bestenfalls 500 Meter am Stück flach, ansonsten ging es zwischen 6 und 18 Prozent entweder steil runter oder steil hoch – für reichlich Feuchtigkeit von innen.

Nun lecken wir alle unsere Wunden nach sieben bezüglich der Pisten und vier bezüglich des Wetters sehr fordernden Tagen und schauen mit etwas Bangen auf die nächste Woche, die uns sogar neun Tage in Folge auf den Rädern sehen wird. Es geht zurück nach Argentinien und in die patagonische Pampa, in der das vorherrschende Thema der Wind sein wird. The Andes Trail bleibt also vor allem in klimatischer Hinsicht eine umfassende Herausforderung, die uns wiederholt an die Pforten unserer Wahrnehmung bringt und mitunter auch schlicht und einfach den Spass am Radfahren/Erkunden raubt. Entsprechend ist die derzeitige Stimmung im Fahrerlager, in dem sich Erschöpfung breitmacht. Alle sind gezeichnet von den Herausforderungen, viele sagen von sich, dass sie “einfach nur noch müde” sind. Man sieht das jeden Morgen auf dem Dach des Trucks, auf dem sich zunehmend mehr Räder sammeln von Teilnehmern, die sich ins Camp fahren lassen. Die Zeit zur Regeneration nach den langen Etappen ist eben knapp, und wenn dann auch noch der Nachmittag im strömenden Regen und bei wohlwollend acht Grad und eisigem Wind „ausfällt“, wird sie noch knapper. Mit anderen Worten: drei Wochen vor dem Erreichen des großen Ziels am Ende der Welt gehen wir alle ganz schön auf dem Zahnfleisch.

Themenwechsel. Coyhaique. 50.000 Einwohner, größer Ort der Region. Für Bewohner eines dieser kleinen Häusersammlungen entlang der Carretera Austral muss sich der Ort anfühlen wie New York für einen von uns. Ein gewaltiges Häusermeer, ein schier überwältigendes Angebot an Einkaufsmöglichkeiten und ein urbanes Lebensgefühl, das dem sonst hier üblichen „hinterwäldlerischen“ Trott diametral gegenüber steht. Zugleich wurden aber gestern Abend ab 21 Uhr auch hier sämtliche Fußwege hochgeklappt, versank Coyhaique in einen Schlummerschlaf, aus dem es erst heute Morgen so gegen 10 langsam wieder erwachte. Auch 50.000 Menschen „schaffen“ eben keien Großstadt. Für uns ist es dennoch bemerkenswert, plötzlich richtige Supermärkte und wahre Shoppingparadiese zu sehen – zuletzt hatten wir so etwas in Mendoza. Zugleich blitzt die Provinzialität aber auch in Coyhaique durch. Irgendwie fühlt sich der Ort bisweilen an wie ein Ausflug in den späten 1950er Jahre in Deutschland, mit all diesen älteren kleinen Läden, die sorgsam ausgewählte Ware feilbieten und den wettergegerbten Cafés, an denen der Zahn der Zeit derart genagt hat, dass sie wie kleine Museen daherkommen.

Noch ein paar Worte zu Chile. Zu den äußeren Eindrücken in Richtung Schweiz hatte ich mich schon geäußert. Das Land bestätigt diese Eindrücke auch “innerlich”. Es ist vergleichsweise teuer – für einen kleinen Kaffee zahle ich hier 1.800 Pesos, das sind umgerechnet rund 2,40 Euro – es ist straff organisiert (in Coyhaique rennen auf jeder Straße Politessen mit computergestützten Strafzettelblöcken herum) und es ist von einem angenehm langsameren Lebenstempo. Mir gefiel Argentinien mit seiner leicht chaotischen Art ehrlich gesagt besser, zumal es noch einen ganz elementaren Unterschied gibt: in Argentinien bin ich mit meinem Stotterspanisch durchaus gut zurechtgekommen und habe auch die eine oder andere Unterhaltung führen können. Hier in Chile scheinen sie eine andere Sprache zu sprechen. Klingt wie Spanisch, besteht aber irgendwie aus völlig anderen Wörter. So scheint es zumindest. Nur wenn ich ganz genau hinhöre kann ich einzelne Wörter identifizieren. Selbst Zahlen (also Preise), nach viereinhalb Monaten eigentlich vertraut, verschwimmen hier zu für mich undefinierbaren Buchstabenbreien.

Beute eines Vormittags in Coyhaique.

Beute eines Vormittags in Coyhaique.

Und noch einen Unterschied gibt es. In Agentinien war der Fußball überall präsent – hier findet er eher in den Nischen statt. Meine Tassensuche war zwar in dreifacher Hinsicht erfolgreich, doch Trikots und andere Souvenirs sind nur schwer zu finden. Wie zitierte ich doch 2009 im zweiten Band der Fußball-Weltenzyklopädie den damaligen Nationaltrainer Manuel Pellegrini: “Wir haben nicht das fußballfreundliche Umfeld, das man beispielsweise in Argentinien hat”. Scheint noch zu stimmen!

Nun aber. Heute stehen noch Radreinigung und Reparatur des Tachos an, der immer mal wieder muckt. Morgen geht es wieder aufs Rad, und die Wettervorhersage für Coyhaique verspricht: Regen, 13 Grad, Wind aus Südwesten. Genau dahin wollen wir. Hört sich also nach “back to reality” an…

Ihr hört von mir, Euer hardy Cyclist!

 

Mit Grabstellen "habe" ich es ja schon seit dem Start in Ecuador - so sehen sie im argentinischen Patagonien aus. Oscar war übrigens River-Fan, wie auf dem Schild unten unschwer zu erkennen ist.

Mit Grabstellen „habe“ ich es ja schon seit dem Start in Ecuador – so sehen sie im argentinischen Patagonien aus. Oscar war übrigens River-Fan, wie auf dem Schild unten unschwer zu erkennen ist.

Abschied von Bariloche im windschnittigen Peleton.

Abschied von Bariloche im windschnittigen Peleton.

Wunderschöner Lake District Argentiniens.

Wunderschöner Lake District Argentiniens.

Hoch oder runter - das ist das Leitmotiv auf den Pisten des chilenischen Teils von Patagonien.

Hoch oder runter – das ist das Leit-(d)-motiv auf den Pisten des chilenischen Teils von Patagonien.

Baustelle Carreta Austral

Schlammige Baustelle Carretera Austral

Manchmal scheint es, als sei die Baustelle unpassierbar. Aber auf zwei schmalen Reifen "geht" alles.

Manchmal scheint es, als sei die Baustelle unpassierbar. Aber auf zwei schmalen Reifen „geht“ alles.

Eines der Probleme auf den (trockenen) Schotterpisten ist der Staub, den die Autos aufwirbeln.

Eines der Probleme auf den (trockenen) Schotterpisten ist der Staub, den die Autos aufwirbeln.

Ausgerechnet in dem Ort "La Junta" begegnete mir der bislang einzige Beleg, dass die Ruta 7 offiziell mal nach Pinochet benannt war.

Ausgerechnet in dem Ort „La Junta“ begegnete mir der bislang einzige Beleg, dass die Ruta 7 offiziell mal nach Pinochet benannt war.

Hostal Alemania in der Avenida Otto Uebel in Puyuhupai.

Hosteria Alemania in der Avenida Otto Uebel in Puyuhupai.

Ein echter "Super"-Mercado!

Ein echter „Super“-Mercado!

Schweiz?

Schweiz?

Nein, Chile!

Nein, Chile!

Bibbern beim abendlichen Dinner in einer notdürftigen Holzunterkunft.

Bibbern beim abendlichen Dinner in einer notdürftigen Holzunterkunft.

Schild an der argentinisch-chilenischen Genze: xxx

Schild an der argentinisch-chilenischen Genze: „Wir haben die Erde nicht von unseren Eltern geerbt sondern von uns Kindern geliehen“.

Jetzt mal ehrlich - das ist doch ein Pizzabäcker und kein Straßenarbeiter, oder?

Jetzt mal ehrlich – das ist doch ein Pizzabäcker und kein Straßenarbeiter, oder?

Futaleufu und der blaue Himmel

Einen schönen Montagmorgen aus der chilenischen „Weltstadt“ Futaleufu, die sich für den Start der 85. Etappe von The Andes Trail (107 km, 0 % Asphalt, 1.202 Höhenmeter) so richtig schön herausgeputzt hat. Blauer Himmel, kein Wind, angenehme Temperaturen – wird ein schöner Tag werden.
Euch allen einen angenehmen Wochenstart!

image

Chile und andere Radträume(r)

image

Das Schönste, was einem Reisejournalisten geschehen kann, ist, wenn er andere Menschen zum Reisen verführt. Insofern war ich höchst erfreut, als am Pausentag in Bariloche plötzlich Günter vor mir stand und mit fröhlichem Grinsen im Gesicht verkündete: „wegen Dir bin ich hier!“. Günter hatte durch meine Zeit-Artikel von der Tour erfahren und sich entschlossen, kurzfristig ebenfalls daran teilnehmen zu wollen – und zwar von Bariloche nach Ushuaia. Das bedurfte zwar einiger Verhandlungen mit der Organisation, denn eigentlich waren wir „voll“, doch am Ende fand man eine Lösung und nun radelt der sportliche Franke mit uns mit – und macht mich stolz, ihm durch mein Geschreibsel möglicherweise zu einem hoffentlich unvergessenen Abenteuer zu verhelfen.
Ansonsten? Hammertag mit 142 SEHR welligen Kilometern größtenteils auf mehr oder weniger gut zu befahrendem Gravel führte uns heute nach Chile, wo ich nach einem Besuch des einzigen Geldautomaten in Futaleufu gleich mal zum halben Millionär geworden bin – kein Wunder, denn ein Euro sind rund 750 Pesos… Rein optisch habe ich allerdings das Gefühl, in der Schweiz gelandet zu sein. Mit dem Grenzübertritt gab es: eine schmucke Asphaltstraße, gritzgrüne Wiesen, auf denen braune und schwarzweiße Kühe gemütlich Grashalme mampften sowie schneebedeckte Berge im Hintergrund. Zudem wirkt alles enorm sauber, aufgeräumt und organisiert. Unser Quotenschweizer auf der Tour, Jürg, bestätigte den Eindruck und kommentierte vielsagend „ich hab noch kein Bier gekauft, schauen wir mal, ob es bei den Preisen auch Schweiz ist.“…
Morgen geht es auf die Caretera Austral und damit in die völlige Einsamkeit. Internet dürfte es wohl bestenfalls am nächsten Ruhetag in Coyhaique wieder geben. Also, take care and stay tuned. Your Hardy cyclist

Blown away by Patagonia

Manchmal weiß ich gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll - da wären ein paar zusätzliche Augen recht hilfreich. Gefunden an einem Bushäuschen kurz vor Bariloche.

Manchmal weiß ich gar nicht, wo ich zuerst hinschauen soll – da wären ein paar zusätzliche Augen recht hilfreich. Gefunden an einem Bushäuschen kurz vor Bariloche.

Im Englischen gibt es diese wunderbare Wendung „I’m blown away by …“. Übersetzt heißt das so etwas wie „ich bin total überwältigt von …“. Ich möchte den heutigen Blogbeitrag gerne mit eben dieser Wendung beginnen, denn kein deutscher Satz fängt meine Empfindungen besser ein als „I’m blown away by Patagonia“. Vor allem deshalb, weil es ein Satz mit zwei Aussagen ist, denn einerseits bin ich überwältigt ob der schier unbeschreibbaren Schönheit der hiesigen Landschaft, andererseits „bläst“ {= to blow) mich der patagonische Wind aber auch hin und wieder regelrecht und im Wortsinne „away“.

Und so kommt Patagonien als ein Landstrich mit zahlreichen Gesichtern daher. Manche sind kuschelig herzererfüllend, manche sind verwirrend berührend, manche sind bittersüß fordernd – und fast alle sind derart gefühlsintensiv, dass mir im Grunde genommen die Worte fehlen. Ich bin eben „blown away by Patagonia“.

Patagonien wirbt für sich - muss es aber eigentlich gar nicht.

Drei Viertel der Tour liegen hinter uns, ein Viertel ist noch zu bewältigen. Quito erscheint wie eine ferne Erinnerung aus der Vergangenheit, die kaum verbunden ist mit dem, was wir gegenwärtig durchleben und durchfahren. Auch weil Quito/Ecuador so anders, so gegensätzlich und so aufregend war. Damals lagen 11.000 Kilometer durch exotische Länder, durch dünne Höhenluft und durch eine wilde Bergwelt vor uns. Nun stecken wir knapp 3.000 Kilometer vor dem Ziel in der Weite und Einsamkeit Patagoniens und kurbeln uns durch Landschaften, die mit denen Ecuadores oder Perus wenig gemeinsam haben. Selbst die verbindende Klammer einer stringenten Kultur – wie wir sie 2011 bei der Tour d`Afrique hatten – fehlt hier. Argentinien fühlt sich an vielen Stellen wie ein europäisches Land an, und mit unserer bunten Kleidung und den hochgestylten Rädern erregen wir – im Gegensatz zu den nördlichen Ländern – kaum noch Aufregung. Zumal wir auch immer wieder einheimischen Rennradlern oder Mountainbikern begegnen, sportlich ambitionierte Radfahrer also zum gewöhnlichen Straßenbild gehören. Das war in Ecuador, Peru und Bolivien wahrlich anders, und das war in Afrika definitiv von Kairo bis Kapstadt anders. Einziges verbliebenes Bindeglied – abgesehen vom Radeln und unserer Radelgruppe – ist die spanische Sprache, die ich allerdings zu meinem Leidwesen noch immer nicht ausreichend beherrsche. Stattdessen habe ich angesichts der numerischen Stärke der niederländischen Andes-Trail-Mitglieder eher das Gefühl, das mein Holländisch besser geworden ist, während mein Spanisch kaum über „kultiviert Stottern“ hinauskommt.

Der Wind, das ewige Thema Patagoniens.

Der Wind, das ewige Thema Patagoniens.

Aber kommen wir zur Hauptsache und damit zu den Dingen und Ereignissen, die uns in den letzten sechs Tagen auf dem Rad widerfahren sind. Es war eine klassische Woche mit zwei Hälften: die erste knüppelhart und fordernd, die zweite zartbitter und belohnend. Los ging es mit 161 Kilometern von Chos Malal nach Las Lajas, einer recht unscheinbaren Siedlung an der Ruta 40. Mir hatte der Pausentag in Chos Malal offenbar gut getan, denn ich war vom Start weg im vorderen Feld dabei und fuhr die 161 Kilometer in 6:09:15 Stunden, was mir am Ende Platz drei hinter den beiden inzwischen verbissen um den Toursieg ringenden Alfred und James einbrachte. Irgendwie liegen mir wohl die etwas längeren Tage im welligen Terrain (1.265 Höhenmeter), und selbst der nervige Gegenwind auf den letzten rund 20 Kilometern konnte mir nichts anhaben. Durch meine frühe Ankunft im Ziel genoss ich einen angenehm sonnigen Nachmittag in einem angenehm schattigen Camp, was perfekt war für den zweiten Tag, denn der hielt gleich zwei heftige Prüfungen bereit. Zum einen mussten wir von 800 Meter auf weit über 1.800 Meter klettern, zum anderen führten die ersten rund 50 Kilometer gen Westen, und genau von daher weht in Patagonien für gewöhnlich der Wind. Gegenwind war also geradezu garantiert.

Aus diesem Gund fuhren wir ausnahmsweise sogar bereits um 7 Uhr los (die Startzeiten sorgen im Übrigen weiterhin für Unruhe und Unmut im Team, dazu später mehr) und pedalieren als recht großes Peleton, was bei Gegenwind immer eine gute Sache ist. Diesmal aber verfehlte es zumindest für mich den Zweck. Denn weil wir möglichst viele Radler vereinen wollten, blieb das Durchschnittstempo ziemlich gering, weshalb mir angesichts der frischen Morgentemperaturen und des kühlen Westwinds rasch kalt wurde. Nach knapp 20 Kilometern hatte ich genug von der Schleicherei und stellte mich alleine in den Wind, was zwar deutlich kraftaufwändiger war, mich aber gleichzeitig spürbar schneller vorwärtskommen ließ und mich zudem etwas erwärmte.

Der Wind war wirklich der Hammer. Manchmal brauchte es nur eine leichte Kurve in der Straße und ich stand plötzlich im vollen Gegenwind, wobei das Wörtchen “stand” doppelte Bedeutung erhielt. Knapp drei Stunden brauchte ich so bis zum Abzweig bei 52 Kilometer in Richtung Süden, wo die zweite Herausforderung wartete: eine Schotterpiste, die sich gemächtlich bis fordernd den Berg hinaufschraubte. Zur Belohung gab e seine Traumlandschaft. Schneebedeckte Gipfel überall um mich herum, wildlaufende Pferde, eine nahezu verkehrsfreie Piste – es war wie ein Ausflug ins Paradies. Höhepunkt war der Lago Aluminé, der schlagartig vor meinen Augen auftauchte und mich abrupt zum Stoppen brachte. Glasklares und kristalblaues Wasser, in dem sich die Schneegipfel der umliegenden Berge spiegelten – ein wahrlich herzerwärmender Anblick. Mittendrin die Bahía de los Sueños, die Bucht der Träume, ein Name, der wohl an kaum einem anderen Ort der Welt angemessener scheint.

Lake Aluminé

Lake Aluminé

Hier geht es zur "Bucht der Träume".

Hier geht es zur „Bucht der Träume“.

Nicht so traumhaft war inzwischen allerdings die Piste, die aus einem lockerem Schotterbett bestand, was mir auf dem Rad das Gefühl vermittelte, ich würde durch frischen Tapetenkleister fahren. Jede Kurbeldrehung brauchte zusätzliche Kraftanstrengung, und so war ich ziemlich froh, als ich nach insgesamt 114 Tageskilometern endlich wieder auf Asphalt stieß und die verbliebenen 15 Kilometer über “rolling hills” zum Camp pedalieren konnte. Mit 7:19:13 Stunden war es für mich der (bislang…) längste Tag auf der gesamten Tour.
image

Im Peleton mit meiner „sister“ Michelle. Was es mit der „sister“ auf sich hat, erzähle ich später im Buch

Tags darauf ging es weiter im Paradies. Nach 70 Kilometern entlang eines Flussbettes stand ein 400-Meter-Anstieg an, der mit seiner rauen Oberfläche nicht allzu leicht zu bezwingen war. Abermals belohnte die Landschaft für die Anstrengungen. Gritzgelbe Ginsterbäume verliehen der recht trockenen Hügelwelt lustige Farbstupfer, die allgegenwärtigen Pferde Patagoniens steuerten eine gehörige Portion Neugierde bei und die Ursprünglichkeit der Gegend mitsamt der mal wieder eindrucksvollen geologischen Formationen ließ philosophische Gedanken über die Entwicklung der Welt aufkommen. Mit anderen Worten: ein weiteres Naturspektakel auf zwei Rädern. Aber Patagonien hat viele Gesichter. Kaum hatte ich eine kleine über den Río Aluminé führende Brücke überquert und war auf Asphalt zurückgekehrt, sah es plötzlich aus wie in den Alpen: sanfte, gritzegrüne Hügel, bunte Blumen zu allen Seiten, gemütlich grasende Kühe auf den Weiden. Und eine wellige Piste mit fordernden Anstiegen, die in Spitzen zehn Prozent erreichen konnten. Wieder mal stand ich einfach nur staunend da und war “blown away by Patagonia”.

in the middle of nowhere

in the middle of nowhere

Damit war die erste Hälfte der Woche rum, und die zweite versprach schon auf dem Papier einiges an dringend notwendiger Erholung. 90, 61 und 86 Kilometer lauteten die Tagesaufgaben – dafür, dass wir seit knapp zwei Monaten täglich eigentlich immer deutlich über 100 Kilometer unter die Pneus genommen hatten, waren das geradezu paradiesische Zahlen. Zudem gab es kein Timing, war die Stimmung im Team also ebenfalls entspannt. Optisch tauchten wir immer tiefer in die Seenwelt Patagoniens ein. Zunächst führte uns die Ruta des 7 lagos nach San Martín de los Andes, einem herrlich an einem See gelegenen Touristennest, das mit seinen Holzhütten, Cafés und Bootsverleihen auch in Österreich oder Bayern stehen könnte. Von dort ging es über schicke Serpetinien zum Lake Faulkner, an dessen Ufern wir campierten und eine geradezu entrückende Erfahrung machten. Einziger Minuspunkt an einem perfekten Tag war das Wetter, das uns anfangs und am Ende mit Gegenwind ärgerte und zum Nachmittag Wolken schickte, die die Temperaturen spürbar sinken ließen. So blieb uns leider auch der als “großartig” angepriesene Sonnenuntergang am See verwehrt, verweilten wir stattdessen in einer campingplatzeigenen beheizten Hütte und ließen uns den Wein schmecken.

Einer der 7 lagos (der bei San Martín de los Andes)

Einer der 7 lagos (der bei San Martín de los Andes)

Die beiden darauffolgenden Tage bis nach Bariloche sah uns zurück auf der Ruta 40, die in welligem Profil an diversen Seen entlangführte und so manch steile Rampe von 12 bis 14 Prozent in petto hatte. Nach all der Quälerei und Schufterei der letzten Wochen fühlten sich die beiden Tage dennoch wie Urlaub auf dem Fahrrad an, und die schön anzusehende Landschaft verstärkte diesen Eindruck noch. Allerdings zeigte uns Patagonien auch ein weiteres seiner offenbar unzähligen Gesichter, denn zugleich fanden wir uns plötzlich mitten in einer touristisch überfrachteten Gegend wieder. Souvenirläden an jeder Ecke, Cafés, Markenshops und Hotels überall, dichter Verkehr, rüde LKW-Fahrer – das ganze Programm. Insbesondere auf den letzten 50 Kilometern nach Bariloche musste der seit Bolivien pausierende erhobene Mittelfinger der rechten Hand wiederholt zum Einsatz kommen, um dem Unmut über fehlenden Seitenabstand Luft zu machen.

Bariloche - hat es seine Seele an McDonalds und Co. verkauft?

Bariloche – hat es seine Seele an McDonalds und Co. verkauft?

Mit Bariloche haben wir vermutlich den “perfekten” Pausenort nach einer Woche voller intensive Natureindrücke gefunden, den Bariloche hat uns regelrecht mit einem Ruck aus den Träumen gerissen und uns in die Wirklichkeit zurückbefördert. Ein Ort am See, der wie eine Kopie von St. Moritz daherkommt. In den Straßen von Bariloche dominieren 5-Sterne-Hotels, Banken, Designershops, poshe Cafés und noble Restaurants. Alles ist hier fast doppelt so teuer wie überall sonst, und eine “Seele” sucht man vergeblich. Stattdessen haben die Stadtväter sogar ihre Straßenschilder an McDonalds verkauft, der natürlich mitten drin ebenfalls eine Filiale aufweist. Auf den Straßen flanieren Menschen allerlei Kulturen, wobei Einheimische eher selten zu erblicken sind. Statt dessen Japaner, Chinesen, Koreaner, Europäer, Nordamerikaner. Die liebgewonnenen südamerikanischen Märkte fehlen ebenso wie die kleinen Kioske, in denen man alles lebensnotwendige für eine Handvoll Pesos erwerben kann. Schade für all die Touristen, die aus fernen Ländern hierherkommen und mit einem Bild von Südamerika zurückkommen, das in meinen Augen und nach über 8.000 Kilometern auf dem Rad schreiend unvollständig ist.

wpid-img_20141113_1302032.jpg.jpegMir bescherte Bariloche indes ein aufregendes Abenteuer, als ich nämlich die örtliche „Libreria Cultura“ betrat und mir mit meinem Stotterspanisch die vorliegenden Bücher über Fußball zeigen ließ. Ich hatte Glück, denn ich traf auf einen sachkundigen und engagierten Verkäufer, der sich große Mühe gab, mir in verständlichem Spanisch alles zu zeigen, was der Laden so zu diesem Thema zu bieten hatte. Und das war eine gewaltige Menge! Rund 20 Bücher türmte er schließlich um mich herum auf, lud mich ein, sie gemütlich zu studieren und das herauszusuchen, was für mich passend ist. Ich fand schließlich jenes, das mich wirklich interessierte, nämlich ein Werk über die Sozialgeschichte des Fußballs in Argentinien. Ein Grund mehr, nun langsam mal mein Spanisch zu verbessern. Toll war auch das abschließende Gespräch mit dem Verkäufer und gleich zwei Kunden über das (hier unvermeidliche) Thema WM-Finale 2014, bei dem wir zu der gemeinsamen Überzeugung kamen, dass Deutschland als Team besser funktionierte und Argentinien eben vor allem (nur?) Messi hatte. Als ich dann auch noch erzählte, womit ich in Deutschland meine Brötchen verdiene, war der Verkäufer vollends Feuer und Flamme und hätte mir wohl am liebsten gleich eine Übersetzung meiner Bücher ins Spanische angeboten. Insgesamt eine tolle Erfahrung, die mich trotz meiner mangelhaften Sprachkenntnisse stolz aus dem Laden schweben sah.

Nun noch kurz zu einem Thema, das uns seit dem Eintritt nach Argentinien “verfolgt”: die Diskussion um die morgendliche Startzeit. Tourleiter Rob verfolgt die in meinen Augen – und nach meinen Erfahrungen – absurde Theorie, je später desto besser. So hatten wir in dieser Woche sogar einen Tag, an dem wir erst um halb Zehn auf die Straße gingen. Heute nun erfuhr ich durch Zufall, dass die eigentlich vereinbarte Regelung “sieben Uhr Frühstück, acht Uhr Abfahrt” abermals gekippt wurde. Nun heißt es wieder “acht Uhr Frühstück, neun Uhr losfahren”. Begründet wird dies mit “kühlen Temperaturen am Morgen”. Nicht nur in meinen Augen unverständlich, zumal die größte Herausforderung in Patagonien der Wind ist, und der frischt erfahrungsgemäß im Laufe des Tages auf. Schon vor zwei Jahren gab es offenbar Diskussionen um die Startzeiten, wobei man da in der Regel um 8 losfuhr (so entnommen einem noch online stehenden Blog eines damaligen Teilnehmers). Und schon damals stand Teamchef Rob offenbar in der Kritik, heißt es in einem Eintrag seinerzeit: “For reasons only known to Rob we started at 9 instead of the usual 8”. Inzwischen sprengt das Thema das Team, denn selbstverständlich hat jeder Teilnehmer seine eigene Meinung dazu, und statt mit klaren und deutlichen Anweisungen für Ruhe zu sorgen, bringt die Tourleitung das Thema durch ständige Wechsel der Startzeiten immer wieder neu auf den Tisch. In meinen Augen keine souveräne Führungsleistung und für mich persönlich ein wirkliches Ärgernis, zumal die Kommunikation nicht zu den Stärken der Organisation zählt. Schade.

Vier Wochen noch, dann erreichen wir Ushuaia, und dieser Trip, der in vielerlei Hinsicht ein Traumtrip ist, geht zu Ende. Ich den Schlussspurt nutzen und kurz mal auf die Insignien auf meinem eigens für die Tour entworfenen Trikots eingehen. Die Firma Owayo bietet die Möglichkeit, eigene Trikot selbst zu gestalten und in einer Mindestmenge von fünf Exemplaren zu überschaubaren Beträgen herzustellen. Da ich ohnehin mindestens fünf Hemden für die Reise brauchte, nutzte ich die Gelegenheit für ein „Special-Tour-Jersey“, auf dem natürlich „The Andes Trail 2014. 11.000 Kilometer from Quito to Ushuaia“ prangt.

IMG_2411Das bot mir zugleich die Gelegenheit, ein Shirt nach meinen eigenen optischen Vorstellungen und Vorlieben zu kreieren. Fangen wir an mit dem blau-weiß gefelderten Grundmuster, das an das Spielkleid meines englischen Lieblings Bristol Rovers angelehnt ist. Natürlich prangt das Rovers-Logo mit dem Piraten da, wo es hingehört: nämlich auf dem Herzen. Der Reifenhersteller Schwalbe hat mich für The Andes Trail wohlwollend sowohl mit Mänteln als auch mit Schläuchen ausgestattet, was ihm zwei Plätze am Kragen des Shirts einbrachte. Ich möchte allerdings hinzufügen, dass ich auch ohne Materialsponsoring Reifen dieses Herstellers fahren würde, denn Schwalbes „Plus“-Serie ist für eine Tour wie diese hier schlicht perfekt. In meinem Gepäck befindet sich der Durano Plus als Slick für Asphalt, der Marathon Plus als Allrounder und der Mondial als Mittel der Wahl für die vielen Offroad-Sektionen vor allem hier unten in Patagonien. Bislang hatte ich zwei Reifenpannen, und die beide am ersten Tag auf dem Weg zum Mitad del Mundo. Nach rund 8.000 Kilometern kann man da wahrlich nicht meckern.

IMG_2404Der Verlag Die Werkstatt fährt als mein Medienpartner auf dieser Tour mit. Ich schätze das Werkstatt-Team seit rund 25 Jahren als verlässlichen und engagierten Partner und habe diverse Bücher unter dem Werkstatt-Logo veröffentlicht. Ging es darin eigentlich immer um Fußball, so wird im September 2015 erstmals ein Werk aus meiner Feder im Verlag erscheinen, das nur rudimentär mit Fußball zu tun hat: das Buch zur und über The Andes Trail! Ich freu mich drauf und hoffe, das Buch wird das Verlagsprogramm bereichern und perspektivisch möglicherweise sogar erweitern.

Ab Frühjahr 2015 am Start - Zeitspiel!

Ab Frühjahr 2015 am Start – Zeitspiel!

Kommen wir zum nächsten Logo, das ebenfalls mit einem Debüt verbunden ist – denn im März 2015 wird die erste Ausgabe von Zeitspiel erscheinen, einem neuen Magazin für Fußball-Zeitgeschichte, das Frank Willig (Nordsport) und ich künftig vierteljährig herausgeben werden. Darin wollen wir uns einerseits der Vergangenheit des Fußballs in allerlei Aspekten widmen und sie von vielerlei Blickwinkeln aus behandeln, andererseits aber auch beobachten und reportieren, was sich im aktuellen Fußball so tun. Allerdings werden wir diesbezüglich den „Kommerzfußball“ weitestgehend außen vor lassen und uns eher dem Fußball unterhalb jener mmedienintensiven Ebene widmen, auf der das Spiel (in unseren Augen) seit einiger Zeit ebenso massiv wie penetrant hochgejubelt wird. Wer ein bisschen mehr über das Projekt erfahren möchte: http://www.zeitspiel-magazin.de/zeitspiel-magazin-fuer-fussball-zeitgeschichte.html bzw. www.facebook.com/zeitspielmagazin

Fier d'etre Guingampais

Fier d’etre Guingampais

Zu meiner eigenen Website muss ich nun wahrlich keine Worte verlieren, also komme ich übergangslos zum „Tous ensemble, toujours En Avant“, das an den Seitenfeldern des Shirts für meinen französischen bzw. bretonischen Liebling En Avant de Guingamp wirbt. „Tous ensemble, toujours En Avant“ steht für „alle zusammen, immer En Avant“ und ist jener Slogan, den man im vergleichsweise kleinen Guingamp (8.000 Einwohner) seit einigen Jahren als Klubmotto pflegt. Ein Slogan, der in meinen Augen perfekt zu einem Verein, einer Stadt, einer Region, einer Fanszene passt, die mich seit nunmehr 20 Jahren faszinieren und begeistern.

Soviel zum Shirt, das mich auch in den kommenden vier Wochen begleiten wird, wenn es auch vermutlich an vielen der kommenden Tage unter der Winterjacke versteckt sein wird. Denn wir stehen vor zwar landschaftlich erneut herausragenden, wettertechnisch und pistenmäßig jedoch zugleich enorm herausfordernden Wochen. Asphalt wird in den kommenden rund 20 Tagen eine nur sporadisch zu befahrende Oberfläche sein, und was das Wetter betrifft, stehen uns vermutlich eher raue Tage mit Schnee, Wind und Regen sowie eisigen Temperaturen bevor. Genügend Gelegenheiten also für Patagonien, mich weiterhin „away“ zu „blowen“.

Ansonsten ist mein nächster Artikel für Die Zeit nun auch online anzuschauen. Reinklicken ausdrücklich erwünscht! http://www.zeit.de/reisen/2014-11/suedamerika-fahrradtour-argentinien-andes-trail. Und damit schalte ich um zur Bildersektion der Woche. Enjoy y hasta pronto, nusotros hardy cyclist.

 

Auf der staubigen Gravelroad nach dem Lake Faulkner

Auf der staubigen Gravelroad nach dem Lake Faulkner

Gemütliches pedalieren im Land der schneebedeckten Berge...

Gemütliches pedalieren im Land der schneebedeckten Berge…

Unser Luinchtruck im Einsatz.

Unser Lunchtruck im Einsatz.

Lunchstop am Campfeuer

Lunch am Campfeuer

Darf ich vorstellen: unser Lunchtrucktream Annelote - zugleich unsere Krankenschwester/Ärztin und Walter, nebenbei Truckdriver.

Darf ich vorstellen: unser Lunchtrucktream Annelot – zugleich unsere Krankenschwester/Ärztin – und Walter, nebenbei Truckdriver.

"keine Atempause..."

„keine Atempause…“

"... Geschichte wird gemacht"

„… Geschichte wird gemacht“

Denn mein Bike und ich wir lieben die Ruta 40!

…denn mein Bike und ich wir lieben die Ruta 40!

Polizeistation in Patagonien.

Polizeistation in Patagonien.

Argentinisches Verkehrsschild mit klarer Botschaft.

Argentinisches Verkehrsschild mit klarer Botschaft.

racing? Racing!

Der Fußball macht manchmal schöne Geschenke. Hatten wir schon bei meinem Argentinien-Debüt in Mendoza, nicht wahr?
Am Abend des Pausentages in Chos Malal bekam ich wieder so ein Geschenk, wie es nur der Fußball bieten kann. Folgende Situation: ich sitze mit einer Gruppe Bike-Dreamers in einem Restaurant, in dem nebenbei Fußball läuft. Boca spielt gegen Cerro Porteno aus Paraguay, es geht um den Einzug ins Endspiel der südamerikanischen Champions League. Unsere Gruppe schaut mit halbem Auge zu, während ich ein wenig über die Befindlichkeiten im argentinischen Fußball erzähle. Als ich nach Boca und River als die „großen“ Klubs auch die etwas „kleineren“ Vereine wie Estudiante, Independiente, San Lorenzo und Racing erwähne, grinst mich plötzlich ein an der Theke stehender Typ an und hebt den Ärmel seines T-Shirts. Darunter kam ein Racing-Tatoo zum Vorschein, das prima zu meinem T-Shirt passte, denn darauf prangte ebenfalls ein Racing-Wappen. Denn: wer braucht schon Boca oder Rivers (gleichbedeutend mit Bayern/BVB), wenn er auch „echte“ Liebe im Fußball bekommen kann – also beispielsweise Racing bzw. Huracan, ein weiterer Klub, von dem ich übrigens ein Shirt erwarb.
Nun aber zurück zur eigentlichen Geschichte. Dank der Wappen war sofort eine gemeinsame Verbindung da, und das ist einfach das schöne am Fußball – das „Lagerdenken“ verbindet auch Menschen, die sich gar nicht kennen. Ratzfatz kamen wir ins Gespräch, zeigte er mir Bilder seiner Familie im Stadion, verriet mir, dass er selber für Racing gespielt habe. Erst verstand ich nicht so recht, doch beim zweiten Mal war dann alles klar: hier steht ein früherer Racing-Profi vor mir und grinst mich an, weil ich das Wappen seines Vereins trage! Dummerweise habe ich in all der Aufregung vergessen, nach seinem Namen zu fragen, und so weiß ich nur, dass er bis vor sechs Jahren bei Racing war und danach in seine Heimatregion nach Chos Malal zurückkehrte. Fröhlich verabschiedeten wir uns voneinander, durchaus zum Erstaunen der restlichen Bike-dreamers, die neidisch feststellten, das Fußball eben großartig verbindet!
Und sonst? Nicht verraten, aber das Wetter ist gerade prima (morgens meistens recht frisch, ehe im Laufe des Tages die Sonne rauskommt und es teilweise regelrecht heiß ist), wir haben in drei Tagen 420 km zurückgelegt – davon rund 200 auf „dirt“ – und durften uns gestern morgen rund 50 Kilometer gegen wütenden Westwind stemmen. Ansonsten? Bin ich am Freitag auf der längsten Etappe der gesamten Tour (161 km) als Dritter nach den beiden Musketieren James und Alfred eingelaufen und habe heute in Junín de los Andes die ersten Verkehrsampeln seit unserer Ankunft in Patagonien gesehen.
Details und Bilder eines wahrlich verzaubernden Patagonien gibt es wie immer am nächsten Pausentag (in Bariloche).

image

Im Dialog mit Petrus

Wieviel Abenteuer passt eigentlich in eine Woche? Wenn es nach The Andes Trail geht, eine ganze Menge. Nehmen wir doch nur mal das Wetter. Freitag: rund 40 Grad, so mollig warm, dass wir unsere Füße in den Camping-Swimmingpool stecken mussten. Ihr habt alle das Foto gesehen. Am nächsten Morgen wachten wir unter bedecktem Himmel auf und erkannten die Welt kaum wieder. Wo wenige Stunden zuvor die Sonne noch mit voller Kraft gewütet hatte, krabbelte das Thermometer plötzlich nur noch auf zaghafte sechs Grad, durchwühlten wir alle unsere Rucksäcke nach dicken Jacken, Handschuhen und Pudelmütze. Doch es kam noch „besser“, denn die Nacht von Samstag auf Sonntag bescherte uns … Neuschnee (!) und einen Etappenstart bei minus zwei Grad. Wahnsinn The Andes Trail…

24 Stunden liegen zwischen diesen beiden Fotos - und keine 200 Höhenmeter.

24 Stunden liegen zwischen diesen beiden Fotos – und keine 200 Höhenmeter.

Ein abenteuerlicher Temperatursturz, der nicht nur die Einheimischen verstörte („kältester Novemberstart seit über 40 Jahren“ wurde uns versichert), sondern der uns völlig überraschend traf. Denn die Winterklamotten nahezu jedes Teilnehmers waren tief in jenem Gepäck versteckt, das lediglich an den Pausentagen von den Trucks geladen wird, da es normalerweise einfach nicht gebraucht wird. Und so pedalierte auch ich am Samstag bei dank eines eisigen Polarwindes aus dem Süden SEHR unangenehmen sechs Grad zwar mit allem, was mein Gepäck hergab, fror aber dennoch wie ein Schneider. Beim Lunch nach knapp 62 Kilometer waren vor allem meine Finger fast blaugefroren (die Winterhandschuhe steckten ebenfalls im nicht zugänglich Gepäck), konnte ich gar nicht so schnell bibbern, wie ich vor Kälte zitterte. Als zu allem Übel auch noch Nieselregen einsetzte, gab ich mich geschlagen und kletterte, wie viele andere, für die restlichen 40 Kilometer auf den Truck. „Natürlich“ stand an diesem Tag ein Bushcamp an, und das heißt in der Regel: keine Dusche, keine Toilette, keinerlei überdachte Unterkunft. Immerhin gelang es der Tourleitung, mitten im Niemandsland einen kleinen Militärposten zu finden, in dessen Garage wir unsere Feldküche aufbauen konnten und damit zumindest im „warmen“ speisen durften. Draußen, also dort, wo unsere Zelte standen, tobte derweil ein heiliger Sturm, der zunächst Regen und während der Nacht dann Schnee brachte. Dafür, dass wir wenige Stunden zuvor in Mendoza noch unter „unerträglicher Hitze“ gestöhnt hatten, war das ein Temperaturschocker, der uns allesamt sprachlos machte. Ich indes war „glücklich“, denn ich hatte Küchendienst und durfte mir die klammen Finger am warmen Abwaschwasser wärmen. Manchmal braucht man einfach ein bisschen „Glück“ im Leben.

Unser abentliches "Bibbercamp" an dem einsamen Militärposten.

Unser abendliches „Bibbercamp“ an dem einsamen Militärposten.

Und damit willkommen zum neuesten Eintrag in „Jenseits der Komfortzone“, einem Titel, der für die letzte Woche mal wieder perfekt passt. Denn es ging weiter mit den Wetterkapriolen. Als ich am Sonntagmorgen einen der Militärs (die hier übrigens stationiert sind, um Jagd auf Wilddiebe zu machen) nach den Wetteraussichten fragte, nuschelte er nur ein mürrisches „Miercolos, bueno“. Sollte wohl heißen, erst am Mittwoch wird es besser. Mit der Frage, wie wir die Kälte bis dahin überstehen sollten auf den Lippen machten wir uns anschließend auf den Weg in eine 150 Kilometer-Etappe, die uns ins das Örtchen Malagüe bringen sollte. Diesmal waren wir zumindest von der Ausrüstungsseite besser vorbereitet, denn am Abend zuvor war das „Wintergepäck“ abgeladen worden und wir steckten unisono in dicken Thermojacken, Pudelmützen und Winterhandschuhen.

Auf geht's in eine  kalten Tag.

Die Winterklamotten sind wieder da – auf geht’s in einen kalten Tag.

Der Tag begann mit einer knapp 40 Kilometer langen Naturpiste, die über weite Strecken ordentlich zu befahren war. Kaum hatte ich sie hinter mir gelassen und war auf eine 85 Kilometer lange Gerade gestoßen, hob Petrus zum nächsten Stich an. Nach Kälte und eisigem Wind kam nun auch noch Regen. Als ich 15 Kilometer später am Lunchtruck eintraf, war ich trotz Winterkleidung erneut komplett durchgefroren und haderte ernsthaft mit meiner Entscheidung, so etwas dusseliges wie The Andes Trail fahren zu wollen/müssen. Zu spät. Wärmender Tee, zubereitet vom Lunchtruckteam Walter und Annelotte, half, das innere Gleichgewicht wieder ein wenig herzustellen, und als dann auch noch der Regen aufhörte und der Himmel etwas heller wurde, machte ich mich auf den Weg auf die verbliebenen 90 Tageskilometer. Petrus bedankte sich artig bei mir und schickte Ostwind auf eine Piste, die in den vorangegangenen The Andes Trail-Ausgaben eigentlich immer von Westwind – und das hieß Gegenwind – beeinflusst war. Wir hingegen rauschten mit lockeren 35 km/h durch die Pampa, bestaunten die zahlreichen Ölpumpen, die das schwarze Gold der aus dem Boden saugen und kamen halbwegs entspannt am Ende der ewig langen Geraden an. Zwischenzeitlich hatte der Himmel weiter aufgelockert, waren sogar erste blaue Flecken zu sehen, spürte man die Sonne, die sich Mühe gab, die Wolkendecke zu durchdringen. An den Berghängen jedoch war unübersehbar, dass mitten im argentinischen Frühling der Winter zurückgekommen war. Neuschnee bis in Tallagen gab der Landschaft ein surreales Bild. 45 Kilometer später erreichte ich Malargüe, ein unscheinbares Nest, das sich selbst – warum auch immer – „Home of the Gods“ nennt. Versuche, via Internet die Resultate des vergangenen Fußballwochenendes herauszubekommen endeten freilich beinahe gottlos – ehe eine kurzzeitige www-Connection von 1-0-Siegen sowohl der Rovers als auch Guingamp und einem traurig-bizarren Ergebnis aus Göttingen künden ließ.

Neuschnee bis in Tallagen.

Neuschnee bis in Tallagen.

Ein Bild ist immer nur eindimensional und gibt die ganze Tristesse nicht wieder - hier fehlen der kalte Wind, der Nieselregen sowie die 85-km-lange und schnurgerade Piste.

Ein Bild ist immer nur eindimensional und gibt die ganze Tristesse nicht wieder – hier fehlen z.B. der kalte Wind, der Nieselregen sowie die 85-km-lange und schnurgerade Piste.

Nächster Tag, nächstes Abenteuer. Aufgabe: Malargüe nach Buta Billon, 136 Kilometer, davon rund 80 asphaltiert sowie knapp 1.000 Höhenmeter. Nach rund drei Monaten auf dem Rad ist das eigentlich ein „peace of cake“ bzw. eine „übersichtliche Aufgabe“. Doch Petrus hatte noch einen Pfeil im Köcher für uns. Wind. Und „natürlich“ aus der falschen Richtung. Der Anstieg zum 2.000-Meter-Pass war noch erträglich. Meistens ein strammer Seitenwind, und je nach Kurvenlage auch mal ein Rückenwind, der uns förmlich den Berg hochpustete. Das Drama begann erst nach dem Gipfel, denn danach kam der Wind von vorne. Und so musste ich trotz eines Gefälles von fünf bis sechs Prozent mit voller Kraft trampeln, um auf Spitzengeschwindigkeiten von 18 km/h zu kommen und mich langsam dem Tal zu nähern. Nur mal so zum Vergleich: einen Berg mit fünf Prozent Neigung rolle ich normalerweise mit 45 -50 km/h runter, ohne auch nur eine Kurbelbewegung machen zu müssen. So wurde die Talfahrt zur harten Arbeit, musste man bei Seitenwind zudem aufpassen, nicht vom Rad getrieben zu werden. Mehrfach blies der Wind mich einfach auf den Seitenstreifen, ohne, dass ich dagegen etwas ausrichten konnte. Und kaum war die Arbeit getan, war das Tal erreicht, wartete die nächste Überraschung. Bauarbeiten! Statt schnurrigem Asphalt grinste mich eine knurrige Schotterpiste an, die die Kraft förmlich aus den Beinen saugte. Aber auch dieser Tag hatte seine schönen Überraschungen. Denn kaum hatten wir den Río Grande überquert, blies der Wind von hinten und damit in die gewünschte Richtung. Wäre nicht immer mal wieder eine „Störung“ wegen Straßenbauarbeiten angesagt gewesen, ich wäre wohl nach Buta Billon geflogen. Buta Billon. Schon mal von gehört? Vermutlich nicht. Drei Häuser bilden einen Ort und damit einen Eintrag auf argentinischen Straßenkarten. Es ist eben einsam südlich von Mendoza. Immerhin führte der in der Küche eines Wohnhauses befindliche „Kiosk“ von Buta Billon kühles Bier, und so konnten wir den Tag in wärmender Sonne und mit kühlenden Getränken ausklingen lassen. Fehlte nur noch der Swimmingpool, und wir wären wieder zurück bei Bild eins gewesen. Danach beruhigte sich das Wetter und wir konnten uns auf die „normalen“ Herausforderungen der Etappen konzentrieren. Als da wären 50 Kilometer auf einer rumpeligen Ruta 40 von Buta Billon nach Barrancas, einem staubigen Nest mit gemütlichem Campingplatz direkt hinter der Grenze des Río Barrancas und damit in Patagonien, sowie einer hölleschweren 94-Kilometer-Etappe in den Pausentag nach Chos Malal, einem Örtchen, in dem man sich am Ende der Welt fühlt. Eine Handvoll Straßenquadrate, zwei Supermärkte, eine Bank und ein Park, in dem die örtliche Jugend mit Wummermusik aus Autolautsprechern abhängt und vermutlich vom goldenen Leben in Buenos Aires oder mindestens Mendoza träumt. That’s it – das ist alles. Für uns geplagte Radfahrer ein recht angenehmer Ort, denn viel mehr als Nichtstun kann man hier kaum – und genau das brauchen wir. Ungewöhnlich allerdings die Öffnungszeiten der örtlichen Lavandaria („Wäscherei“), denn während in Argentinien eigentlich jedes Geschäft nicht vor 9 öffnet und zwischen 13 und 17 Uhr zu hat, öffnete jene lediglich zwischen 8 und 15 Uhr. So standen wir ratlos mit der dreckigen Beute einer anspruchsvollen Woche vor verschlossenen Türen und dürften Morgen nochmal auflaufen.

Es mag einsam sein hier, aber es ist auch herrlich schön.

Es mag einsam sein hier, aber es ist auch herrlich schön.

Ich hatte am Anfang von The Andes Trail mal einen Vergleich zur Tour d’Afrique angestellt und möchte den heute noch mal aufgreifen. Wir sind vier ehemalige Tour d’Afrique-Fahrer hier in Südamerika und wir sind uns allesamt einig, dass dieser Trip hier um einiges anspruchsvoller ist als Afrika. Manchmal kommt einem Afrika fast wie ein Sonntagnachmittagausflug vor. Nicht, dass Afrika nicht ebenfalls fordernd und herausfordernd gewesen sei, aber neben den vielen Bergetappen und den Problemen mit der Höhenluft ist vor allem das Wetter ein sehr entscheidender Faktor. Hier ist es, wie haben es gerade erst wieder erfahren, völlig unberechenbar. In Afrika war es heiß. Trocken heiß, zumeist. Und wenn es mal nass war, war es trotzdem warm. Erst in Namibia und Südafrika wurde es etwas kühler. Hier? Muss man wettertechnisch jeden Tag mit allem rechnen. Und das macht es schwer, denn es ist ein Riesenunterschied, ob ich 150 Kilometer im warmen Sonnenschein oder bei Temperaturen von unter zehn Grad und im Regen fahre. Moralisch, aber auch körperlich. Hinzu kommen die ständigen off-road-Passagen hier. In den letzten zwei Wochen hatten wir lediglich einen Tag, der komplett auf Asphalt gefahren wurde. Und seit zwei Wochen habe ich auch die dicken 47er Noppenreifen auf dem Rad, die vermutlich bis zum Ende der Tour in Ushuaia drauf bleiben werden. In Afrika waren die dicken Stollen immer nur für ein paar Tage auf dem Rad. Aber Afrika ist nicht Südamerika, und es ohnehin unsinnig, die beiden Touren miteinander zu vergleichen. Seit zwei Tagen sind wir nun auch offiziell in Patagonien, nachdem wir nach Überquerung des Río Grande schon „gefühlt“ in diesem Teil am „Ende der Welt“ angekommen waren. Patagonien empfing uns standesgemäß mit Wind, der von nun an vermutlich täglich eine Rolle spielen wird, Patagonien empfing uns aber auch mit einer grandiosen Natur. Eine Weite und schiere Endlosigkeit, in die man eintauchen möchte, eine Einsamkeit, in der man vornehmlich wilden Pferden, Flamingos, Hasen und anderen Lebewesen begegnet. Und so bleibt es trotz aller Unbillen und Herausforderungen ein glänzender Traum, The Andes Trail auf dem Rad und mit Muskelkraft zu absolvieren. In dem Sinne, hasta pronto, your hardy cyclist Am Tag, als der Regen/Schnee/Wind kam (und ich meine Winterklamotten wiederhatte) Am Tag, als der Regen/Schnee/Wind kam (und ich meine Winterklamotten wiederhatte)

Schild am Straßenrand. Geschwindigkeit zum Selbsteintragen?

Schild am Straßenrand. Geschwindigkeit zum Selbsteintragen?

Wolkenformation à la Patagonia. Wenn ich im Studium richtig aufgepasst ahbe, hat das was mit sehr schnellen hohen Winden zu tun.

Wolkenformation à la Patagonia. Wenn ich im Studium richtig aufgepasst habe, hat das was mit sehr schnellem Wind in der Höhe (so zwischen 10.000 und 20.000 Meter) zu tun.

wie ging noch dieses Lied aus den 80ern? "Keine Atempause, Geschichte wird gemacht ..."

Wie ging dieses Lied aus den 80ern noch? „Keine Atempause, Geschichte wird gemacht …“

"... es geht voran!"

„… es geht voran!“

Ein "Grader" bei der Arbeit. Er arbeitet im Grunde wie ein Schneepflug - "glättet" die Piste und räumt die großen Sachen beiseite.

Ein „Grader“ bei der Arbeit. Er arbeitet im Grunde wie ein Schneepflug – „glättet“ die Piste und räumt die großen Sachen beiseite.

Patagoniens Weite.

Patagoniens wilde Weite.

Patagoniens Vulkane.

Patagoniens Vulkane.

Kleiner Rückblick auf den 356-Kurven-Tag nach Mendoza, als Lunchtruck-Driver Walter mich "einfing".

Kleiner Rückblick auf den 356-Kurven-Tag nach Mendoza, als Lunchtruck-Driver Walter mich „einfing“.

Patagonia!

Patagonien! Leider kein Radfaher drauf zu sehen - auf derlei Terrain ist das Feld immer ziemlich auseinmandergezogen, fährt man häufig kilometerweit mutterseelenallein.

Patagonien! Leider kein Radfahrer drauf zu sehen – auf derlei Terrain ist das Feld immer ziemlich auseinmandergezogen, fährt man häufig kilometerweit mutterseelenallein (und ja: das Weiße ist Schnee…)

Hola, hier ist Patagonien, das Land der Winde und Stürme!
Eine Kostprobe davon haben wir schon bekommen, wiewohl gegenwärtig in Chos Malal – für patagonische Verhältnisse eine regelrechte „Großstadt“ – die Sonne scheint und nur ein laues Lüftchen weht.
Das war im Laufe der Woche wahrlich nicht immer so… Mehr dazu morgen am Pausentag. Stay tuned to Kanal „Jenseits der Komfortzone“!