Monat: August 2019

Albanien – der vergessene Traum

Es war vermutlich 1971, als ich zum ersten Mal von Albanien hörte. Im Februar spielte die deutsche Fußball-Nationalmannschaft in Tirana, und wenn ich mir heute die Presseberichte von damals anschaue dann muss das ein Heidenabenteuer für die angehenden Europameister um Franz Beckenbauer gewesen sein. Denn Albanien, das war „der Feind“, das war verbotene Zone. Noch mehr als die Sowjetunion, oft fälschlich „Russland“ genannt, noch mehr als die DDR, von der Springer-Presse immer in Tüddelchen geschrieben und allemal mehr als Jugoslawien, wo man damals schon zum Urlauben hinfuhr und Fußball-Profis für die Bundesliga mitbrachte. Albanien war die zu einem Staat gewordene Personifizierung des Bösen. Ich war damals zu jung, um die Aufregung der Erwachsenen über dieses winzige Land im Süden Europas zu verstehen.

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Goldstücke aus dem abgeschotteten Land: Luftëtari Gjirokastër, KS 17. Nëntori Tirana, SK Tirana, Partizani Tirana, Tomori Berat, Traktori Lushnja, Apolonia Fiër, Naftetari Qyteti Stalin, Tekstil Pogradec

1981 verstand ich mehr, da ging die Reise für das DFB-Team erneut nach Tirana. Die Fernsehbilder zeigten fremd ausschauende Menschen und eine Stadionlandschaft, die von der bizarren Uniformität des Ostens erzählte. Inzwischen kannte ich ein paar Klubnamen, die seltsam exotisch klangen. Luftëtari Gjirokastër zum Beispiel. Oder Partizani Tirana, Besa Kavaje, Skënderbeu Korçë, 17. Nëntori Tirana, Traktori Lushnje. Fremdklingende Gedichte aus einer unbekannten Welt. Meinen ersten direkten Kontakt mit Albanien hatte ich 1985 in London. Da gab es einen stramm linken Buchladen irgendwo in Soho. Und in diesem Buchladen gab es Anstecknadeln von albanischen Fußballvereinen. Ich war im Paradies und sackte die aus billigem Blech gefertigten Goldstücke im Austausch gegen viel zu viele Pfundmünzen ein. Albanien rückte mir näher. Dann las ich von Enver Hodscha, von seiner radikalen Abschottungspolitik, von seinen Brüchen mit China, mit der UdSSR, mit Jugoslawien, mit eigentlich allen. Dieses kleine Land an der Adria war komplett isoliert und gab sich autark. Dass es den Einwohnern dabei ziemlich schlecht ging, ahnte man nur. So wie heute im Fall Nordkorea.

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Rare Literatur über Fußball in Albanien

Ich entwickelte eine Leidenschaft für das kleine Land, die fast zur Obsession wurde. Gierig sog ich jeden Fetzen der kargen Informationen, die bei uns im Westen ankamen, auf. Vor allem zum albanischen Fußball. Als die Mauern des Ostblocks fielen, wackelten auch die Albaniens. Hodschas Land der Bunkerpilze, mit denen er sein ausgeblutetes Reich geflutet hatte, öffnete sich. Der große Enver war da schon längst tot, von seinem Nachfolger Alia ins Museum der gescheiterten Führer gestellt worden. Als Albanien seine Pforten öffnete strömten die so lange eingesperrten Menschen in Massen heraus. Darunter Altin Rraklli, der für die SpVgg Unterhaching in der Bundesliga Tore schoss und mit seinem Doppel-R die Kommentatoren der Sportschau zum Stottern brachte. Albanien wurde zum Land im Wandel und im Ringen mit sich selbst. Aus der Ferne staunte ich und drückte Daumen, dass alles gut ging.

1997 wollte ich mir anschauen, wie es wirklich in Albanien aussieht. Mario Kempes, argentinischer Weltmeister 1978, hatte gerade in Lushnja einen Trainerjob angenommen. Dass der Klub nicht mehr Traktori hieß sondern SK fand ich irgendwie schade. Meine Reiseplanungen waren schon sehr weit fortgeschritten, als Albanien erst zusammenbrach und dann explodierte. Windige Geschäftsleute hatten ein Schneeballsystem entworfen, in das hunderttausende von Albaner ihre Ersparnisse investierten. Das Unvermeidlich geschah: die wackelige Zinspyramide brach zusammen. Kempes saß damals nach einem Spiel in der Umkleidekabine und traute sich nicht raus, weil draußen der erregte Mob tobte. Schwer bewaffnet, denn sämtliche Polizei- und Militärstationen waren zwischenzeitlich gestürmt und geplündert worden. Die Menschen hatten alles verloren und standen vor dem Nichts. Ich stornierte meine Albanien-Reise.

Irgendwie hat sich das Land durch die Krisen navigiert und in den folgenden beiden Dekaden sogar eine erstaunliche Entwicklung hingelegt. Meine Neugierde auf Albanien jedoch flaute ab. Zudem entglitt mir die Faszination seines Fußballs, nicht zuletzt, weil albanische Vereine erstens ihre wunderbaren Namen abgelegt hatten und sie zweitens in irgendwelchen Vor-Vor-Vorqualifikationen der europäischen Wettbewerbe gegen namenlose Underdogs viel zu früh ausschieden. Sie verschwanden von meinem Radar.

Während ich viel Zeit in England und Frankreich verbrachte, später mit dem Rad durch Afrika und Südamerika kurbelte, rutschte Albanien fast völlig aus meiner Aufmerksamkeit. Und blieb zugleich beharrlich auf der großen „Länderreisewunschliste“, die ich alljährlich um Weihnachten herum hervorkrame und pflege. Gefühlt stand das Land der Skipetaren da jedoch nur noch als Relikt, als Reminiszenz an vergangene Träume, die kein Leben mehr haben. Ende 2018 verschwendete ich jedenfalls keinen Gedanken an eine Reise nach Albanien.

Durch wilde Zufälle änderte sich im März plötzlich alles. Ein Buchprojekt, an dem ich beteiligt bin, beschäftigt sich mit Fankultur in Ex-Jugoslawien. Und das Autorenduo plante Exkursionen vor Ort. Auf der Karte sah ich, wie nahe Montenegro an Albanien liegt. Irgendwann griff ich mir den Europa-Radreiseführer von ReiseKnowHow, googelte ein bisschen und wusste plötzlich: ich radle durch Albanien! Die Detailplanung lief dann nicht mehr ganz so glatt, denn die Idee, nach Podgorica zu fliegen und die beiden Autoren bei ihren Exkursionen für ein paar Tage zu begleiten, ehe ich nach Albanien weiterradle, fiel den mangelhaften Transportmöglichkeiten sowie den unvorhersehbaren Spielplanterminen in Montenegro zum Opfer. Am Ende stand nur noch der Trip nach Albanien.

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Meine Route. Von Tirana geht es nach Norden nach Shkodër und von dort im Uhrzeigersinn einmal rum durch das Land.

Am 5. September geht meine Tour de Shqipëria (Albaniens Name in der Landessprache) nun los. Vier Wochen Albanien, vier Wochen radeln, vier Wochen entdecken, Menschen kennenlernen, in Geschichten und Geschichte baden, schauen, wie das wirklich so ist mit den gefürchteten Streunerhunden Albaniens, die jeden Radler angeblich in die Flucht treiben. Als Basis dient eine Idee aus 1997. Damals wollte ich mich über Kontakte durchs Land treiben lassen. Von Ort zu Ort, von Fußballklub zu Fußballklub. Das erscheint mir auch heute noch ein guter Plan. Und so werde ich einerseits das Land gemütlich erradeln, und mir andererseits erzählen lassen, wie das so war unter Hodscha. Wie es den Menschen nach der Öffnung erging, was ihnen während des Beinahe-Bürgerkrieges passierte und wie es sich heute anfühlt, wo Albanien auf die Aufnahme in die EU hofft und auf dem Weg zu einer touristischen Geheim-Destination ist. Und gleichzeitig mit den Folgen des Kosovo-Krieges kämpft. Denn Albanien ist ein Land mitten im Um- und Aufbruch, und es scheint mir der perfekte Zeitpunkt zu sein, dort hinzufahren und das zu spüren, was bald zu Geschichte geworden sein wird.

Meine große Radelrunde durch das Land, so groß wie Brandenburg, beginnt in Tirana, wo ich bereits mit Fans von FK und Partizani verabredet bin. Von dort starte ich nach Shkodër und tauche in die albanischen Alpen ein. Dass die zum Fahrradfahren nicht unbedingt geeignet sind zeigte sich bei der Routenplanung, als die Strecke von Shkodër nach Teth, auf 1.663 Metern gelegen, auf 81 Kilometer sagenhafte 4.571 Höhenmeter anzeigte. Und damit nicht fahrbar ist, denn an meinen Rad hängt ja mein kompletter Hausstand für vier Wochen, den ich jeden Anstieg hochwuchten muss.

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Vorbereitungsstoff

Highlights gibt es reichlich. In Koman, etwa 60 Kilometer östlich von Shkodër, will ich auf eine Bootsfähre klettern und mich auf dem durch ein Tal gezogenen Koman-See nach Fierzë schippern lassen. Im Internet gefundene Bilder künden von herrlichen Naturwundern und einem Hinterland, in dem die Welt zu Ende scheint. Und das mich Radreisenden in den darauffolgenden Tagen an die Grenzen bringen wird, denn die Höhenmeter purzeln auf dem Weg von Fierzë hinunter zum Ohrid-See an der Grenze zu Mazedonien nur so herunter. Auch vom Ohrid-See sah ich schier sagenhafte Bilder und habe deshalb wohlweislich einen Pausentag in Pogradec eingeplant.

Danach geht es tief hinein in Albaniens Geschichte. Korçë mit seiner historischen Altstadt und der ältesten Brauerei Albaniens, Gërmenj und Leskovic, Zentren des grünen Wandertourismus, der sich in Albanien gerade ausbreitet, das Tal der Vjosë mit Përmet und Këlcyrë als weitere historische Hotspots.

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Die erste Planungsphase war irgendwie noch nicht so richtig „rund“

Der Fußball wird mich stets begleiten. Über die Kontakte, über den Alltag, als roter Faden. Noch sind die Spielpläne von Albaniens beiden Profiligen nicht veröffentlicht, aber ich bin guter Dinge, dass ich einige meiner Traumteams von damals endlich mal live erleben darf. Zum Beispiel Luftëtari Gjirokastër. Gjirokastër ist aber auch ohne Fußball ein Highlight, denn die auf einem Hügel klebende Stadt ist ein begehbares Museum durch die lange und wechselvolle Geschichte Albaniens. Sie ist Geburtsort von Enver Hodscha und Heimat von Ismail Kadaré, Albaniens wohl bekanntestem Autoren, der Gjirokastër mit „Chronik in Stein“ ein ewiges Denkmal gesetzt hat.

Von Gjirokastër geht die Reise weiter an die Adriaküste, wo mein kleiner Trip mit ein wenig Urlaubsflair aufgepeppt wird. Irgendwas zwischen idyllischem Strandparadies und zubetonierten Promenaden soll mich im Großraum Sarandë erwarten. Na ja, mit Sonne und dolce vita wird es schon gehen. Das letzte Drittel der Tour dann noch einmal ein radsportliches Highlight. Der Llogara-Pass geht hoch bis auf 1.027 Meter, und jeder Radler, der ihn überquert hat schwärmt von der Schönheit der Natur, dem weiten Blick auf das Meer und den wunderbaren Serpentinen. Scheint perfekt zu sein für the hardy cyclist! Ab Vlorë wird es flach, graubetonig und heftig industriell, rückt der Fußball zurück ins Blickfeld. Flamurtari Vlorë, Apolonia Fiër, Tomori Berat, KS Lushnja, KF Elbasan und Teuta Durrës stehen auf der Speiseliste, ehe ich nach Tirana zurückkehre, wo sich meine kleine Rundreise nach etwa 1.200 Kilometern ihrem Ende zuneigt.

Die geplanten Etappen liegen im Bereich irgendwo zwischen 30 und 100 Tageskilometern. Denn ich will genügend Zeit haben, um wirklich ins Land einzutauchen und Geschichten einzusammeln, statt ständig von Uhr und Kilometerzähler getrieben zu werden. Will mich quasi in Albanien „fallen“ lassen und darauf vertrauen, dass das Land schon das mit mir anstellt, was es für richtig hält. Selten habe ich mich so auf einen Radtrip gefreut, und selten war ich so wenig vororganisiert wie diesmal. Allerbeste Voraussetzungen für einen feinen Abenteuertrip, nicht wahr?

Wir sehen uns in Albanien, bleibt drauf auf diesem Kanal, ab sofort purzeln die Neuigkeiten über die weitere Vorbereitung hier ein. Und wer Kontakte ins Land hat: bitte melden!

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Ein Trikot zur Tour gibt es natürlich auch.